Homo Connectus

ROMAN VON THORSTEN WIESMANN

Dienstag, 24. November 2009

Erster Teil (Kapitel 1)


 Dies ist das 1. Kapitel des Romans HOMO CONNECTUS von Thorsten Wiesmann

 
1
Ich schieße ein paar Fotos aus dem quadratischen Hotelfenster. Leere Balkone auf der Gegenseite des Gebäudes, die vielleicht noch niemals betreten wurden, bilden interessante geometrische Formen aus. Es heißt immer eine Photographie, oder ein Film, könnte nicht die innere Vision eines Menschen wirklich einfangen. Aber vielleicht liegt das nur an der bisherigen Natur der menschlichen Visionen, nicht an der Begrenztheit der Medien.

Dies hier ist nicht das Grand Hotel Saint-Louis. Auch nicht das Riviera Hotel in Vegas, bei dem die einzelnen Flügel des Gebäudes nach verschiedenen Attraktionen der französischen Riviera benannt seien solle; und wo man angeblich nicht mal ein Nichtraucher-Zimmer bekommen kann. Ein Freund erzählte mir mal, mich vom dortigen Monaco-Flügel aus anrufend, dass in seinem Raum sämtliche Glühbirnen durchgebrannt wären und er seit über einer Stunde dabei sei, den Service um Hilfe zu bitten. Und so etwas an einem angeblichen Luxus-Urlaubsort. Ich wollte es nicht glauben.

Um mich herum sind die Namen der Abteilungen schlicht nach verschiedenen Erdteilen benannt und geben sachlich Auskunft; falls jemand den Sinn für die Himmelsrichtungen verlieren sollte.
Ich trete aus dem Hotelzimmer, in dem ich mich schon einige Ewigkeiten aufgehalten haben muss, und blicke in beide Richtungen des leeren Flures. Zu Füßen der Nachbartür, in südlicher Richtung, entdecke ich zwei durchsichtige Plastiktüten, in denen die Reste von sorgfältig abgenagten Hühnerknochen sichtbar sind. Sacht klopft meine Hand an.

Eine Frau, mittleren Alters und mit dunklen Augen, öffnet die Tür und bittet mich mit einer beschwingten Geste, die elegant Demut und Entschlossenheit verbindet, einzutreten. Sie fragt mich nicht etwa wer ich überhaupt sei, sondern bemerkt nur beiläufig, als hätte sie mich schon erwartet:
Du bist also immer noch auf der Suche nach dem Traum von dir selbst?

Sie lebt inmitten einer großen Ansammlung von Koffern. Dem Aussehen nach stammen sie alle aus verschiedenen Schichten ihrer Vergangenheit. Sie stehen da herum, um sie verteilt, und aus ihnen wachsen, wie Topfpflanzen, Skulpturen aus Wäsche und Erbeutetem. Einige sind auch, vielleicht von einer Kinderhand, mit syrischen oder früh-griechischen Mustern bemalt worden. Im ganzen Zimmer ein Duft von Kalbsleder, langen Reisen, angesammeltem Moder.
Auf einmal reißt sie die Arme nach oben und begrüßt den Tag, stellvertretend für uns beide, mit den Worten:
Die Sonne duldet kein Weißes, Phöbus ruf die Farben hervor !
Ich nicke ihr kurz zu, so als wüsste ich genau wovon sie da spricht, starre dann aber sofort wieder auf die Koffer, von denen genau vier sich auf dem Boden befinden und drei hängend an Seilen an den Wänden um uns herum.
Während sie mit der einen Hand eine Flasche Nagellackentferner durch den Raum balanciert, und mit der anderen ihr Graffiti-ähnliches Make-up nachzeichnet, wird sie gesprächig.
Etwas kommt da direkt aus dem Reich der Frequenzen zu uns. Setz dich. Stör dich nicht an dem blühendem Gesumme deiner verfaulenden Gedanken. An den Spekulationen deines Selbstbildes aus Erinnerungsresten. Lausche lieber der strahlenden Melodie des genauen Tons. Die Anziehung zwischen Silben und Wörtern ist nicht verschieden von der der Gestirne und Körper.

Sie legt sich mit Schwung eine in verschiedenen Farben changierende Seiden-Steppdecke um die Hüfte und wirft dann ihren beiden faul herumliegenden Hündchen einen kleinen Ball zu.
Das sind Pico-Blanche und Sweetheart. Sind heute ganz süße Dinger.
Ich weiche den trägen Blicken dieser Tiere aus und richte meine Aufmerksamkeit stattdessen auf eine Spieluhr mit einer tanzenden Negerin, die in einer Ecke etwas verloren herum steht. All das was diese Frau umringt, die Sachen die sie mit sich führt, nehmen den Raum um sie ein und wirken kompakter und wirklicher als die Art, auf die sie sich mir präsentiert.
Ihr Kopf kippt etwas zurück. Sie hat offenbar meine Gedanken gehört.
Komm doch zu mir herüber, das ist übrigens mein Sohn Tray, da auf dem Bett. Ich habe ihn letztens von der Schule abgemeldet. Seit dem reist er mit mir umher. Sein Vater ist diesmal in Brasilien geblieben. Dort hat er auch noch eine Familie. Genau genommen nur einen Sohn, einen Stiefsohn und einen Pflegesohn. Siehst du mein Hemd, ich habe es zuletzt vor Jahren und wer weiß wo getragen. Der Koffer dort ist beim Transport von Guatemala hierher so faltig eingetrocknet.
Auf einem ihrer Koffer entdecke ich, während ich ihr zuhöre, einen von seinen Rändern her zerfetzten Aufkleber. Noch deutlich ist ein Teil seiner ursprünglichen Beschriftung zu lesen: Calypso Range. Das Wort CALYPSO ist geformt aus kleinen Sternchen. Die Buchstaben sind offenbar mit irgendeinem Spezialmaterial beschichtet: Sie glitzern, als würden sie von innen, aus dem Inneren des Koffers heraus, dazu veranlasst.
Die Worte von dem Aufkleber hallen in mir nach. Ich bemerke, wie sie tief unten Erinnerungen und Gefühle in mir wachrufen. Aber mir ist nicht ganz deutlich welche. Ich versuche mich ganz auf die Bedeutung der Beschriftung zu konzentrieren, indem ich die Worte einzeln in mir auflöse und sie durch ihnen verwandte Begriffe ersetzt. Als wäre ich betrunken, kann ich zunächst nicht ganz Halt an dem finden, was sich nun in Form von Gedanken innerhalb von mir beginnt abzuspielen. Doch allmählich löst sich alles Chaos meiner Gedanken und Empfindungen innerhalb folgender Eingebung auf: Wie manche Pflanzen eine eigene Wärme produzieren um Insekten anzulocken, so bauen manche Frauen eine bestimmte Schwingung um sich herum auf, durch die sie unnahbar werden. Erst nachdem man für sie bestimmte Aufgaben erledigt hat, kommt man wieder aus ihrem Bann frei. In der Natur und im Geist folgt alles bestimmten Gesetzen der Anziehung und Abstoßung. Der Versuch aber den Wirkungsweisen solcher Frauen nachzugehen…

In diesem Moment tippt mir eine Hand auf die Schulter. Ich drehe mich um und betrachte mit angehaltenem Atem die Muschelohrringen der Mutter, die vor meinen Augen hängen und leicht hin und her schaukeln.
Küss mich, an die Stelle meines Körpers natürlich, an der du keinen Parfümgeruch ausfindig machen kannst. Dann nehme ich dich mit ans Ende aller Strassen. Denk nur nicht ungestraft liegt der Mensch auf der Lauer und gibt sich der Verfolgung hin. Alles, was er auf seine Art aktiv betreibt, erlebt er passiv genau so an sich selbst, aber verstärkt. Ich, zum Beispiel, fühle sehr deutlich jederzeit das Kommen und Gehen der Gezeiten. Sehen wir mal: Da ist diese Frau, die auf dich wartet. Sie trägt altmodische Schuhe, als wäre sie deine Großmutter. Nun, nimm es nicht so schwer. Die geheimen Fakten deiner Akte werden von Spezialist zu Spezialist weitergereicht und sind einfach auch bei mir gelandet. Ah, da ist noch etwas: Wenn du einmal deine Augen schließt, wirst du dich wieder finden auf einem überfüllten Gehsteig in einer dieser schlagartig erblühten Megastädte des Ostens. In diesem Moment wird dir dein eigener Charakter deutlich werden.
Mein Gedächtnis stellt das Bild scharf, das sie mir da von meiner Zukunft liefert und ich höre mich zu ihr sagen: Es ist wie du sagst. Weder Vergangenheit noch Zukunft. Verstehst du? Alle um uns herum machen es doch jetzt so: Rip, Mix, Burn…

Ihr Sohn spielt neben uns mit einem Game, das mit Katzenlauten Befehle plärrt, denen ich keine Gefühle zuordnen kann. Er trägt Shorts, die eine handliche Version eines brasilianischen Beach-Boys aus ihm machen. Als Aufdruck knallt ein leuchtendes Blütenmuster hervor. Die tiefe Konzentration beim Spielen wirkt professionell, bei aller Kindlichkeit seiner unruhigen Bewegungen und all der konvulsivisch aus ihm heraus brechenden Wortbildungen. Seine Blicke streifen mich beiläufig, als würde er mich mühelos, wie nebenbei, in sein Programm einfügen, wo ich dann mitspiele, innerhalb seiner Welt.
Ist er etwa eine Art Eidetiker, mit dieser Fähigkeit begabt, Objekte auch in ihrer Abwesenheit in ihrer sinnlichen Präsenz zu erleben? Seine Selbstgespräche, in die er da, neben seiner Spielerei, noch verwickelt ist, wirken jedenfalls wie Zwiegespräche mit anderen konkret imaginierten Personen, die er wie Geister nach belieben herbeizitiert.
Die Mutter hat währenddessen an mir einen äußerst seltenen Duft ausgemacht, den ich von irgendwo mitgeschleppt habe muss. Sie sagt etwas über Mandeln, deren unterschiedlich zubereitete Öle nicht nur gut für die Haut seien. Sie reibt mir einige ihrer Essenzen zum Vergleich auf den Bauch. Mir kommt dabei die etwas verrückte Idee, dass der gesamte Kosmos nur zusammengehalten wird aufgrund einer, uns selbst nur beiläufig bewussten, Willensanstrengung unserer Psyche.
Sie schaut mich an und nimmt eine Atemzug in sich auf.
Weißt du, je offener ein System, je weniger es verzerrt, je mehr muss es sich einer ihm ganz eigenen Technik der Reduktion bedienen. Die so genannte primäre Realität ist pure Regression, nicht Transzendenz.
Ich fasse den Entschluss mich bequemer hinzusetzen.
Das habe ich auch schon feststellen können. An Hand von Bildern auf dem Weg hierher. Zum Beispiel bei den Bildern auf diesen Plakaten mit der Aufschrift Use Your Illusions. Jedes mal, wenn ich diese Worte las, dachte ich so was wie: Unsere Erinnerungen liegen tief in unseren Gehirnen verschlüsselt und an sonderbaren Orten bekommen wir immer Gelegenheit Treue zu beweisen.
Illusionen, das ist ein Reizwort für sie. Sie beginnt sofort über Gegenstände zu sprechen, die sie von Reisen mitgebracht hat: Die Plastikskulptur einer boxenden Nonne aus Amerika, oder den kleinen Leuchtturm da, mit seiner blauen 15 Watt Glühbirne, aus Portugal.
Ich wusste selbst nicht, dass ich auf all so was abfahre. Mich haben in Portugal am meisten die halb fertigen Hotelskelette, die da überall herumstehen, fasziniert. Da ist irgendwann der Branche das Geld ausgegangen und nun steht das alles nur so rum. Riesige Trägerkonstruktionen und zerfallene Baugerüste. Vereinzelte Dorfkinder spielen in diesen Skeletten Versteck…
Ach ja, die großen Häfen die sie letzten Sommer zusammen mit ihrem Sohn besucht hat. Von einem hat sie eine Panoramaaufnahme in 36 Einzelbildern während einer Überfahrt geschossen. Sie zeigt sie mir.
Du kannst, wenn du genau hinschaust, den Bogen, den die Fähre zieht, sich am Horizont abzeichnen sehen.
Ich sehe nur Fähnchen und Wimpel an Deck, die einige vorbei fliegende Möwen hypnotisieren. Nur erahnen lässt sich die genaue Route der Fähre, entlang einer unsichtbaren Linie, die das was die Aufnahmen zeigen trennt von dem, was wohl noch niemand gesehen hat. Der Blick auf ihre konservierte Erinnerung lässt mich in Schweigen versinken. Egal, ihr Herz tut sich trotzdem auf:
Und dort, siehst du, habe ich gestanden, auf diesem Bootssteg, als mich die Idee packte alles drauf haben zu wollen.
Sie gesteht mir, dass sie Häfen lieber mag als Strände, weil sie schon als Kind immer ganz traurig wurde, wenn sie die Wellen, die doch von so weit über den Ozean heran wandern, auf Sand auslaufen sah.
Dagegen in einem Hafenbecken prallen sie ab und verschwinden wieder in alle Richtungen. Ist doch viel schöner.
Sie seufzt auf eine sich selbst vergewissernde Art und fügt noch hinzu: Ich sage mir immer: Das Leben ist die Brandung. Werde wie das Meer…
Und wie ist das mit dir und deinem Sohn?
Ach nun, wir entwickelt, durch unsere Reisen, eine Art spezifisches Bewusstsein füreinander. Und für die Welt.
Der Junge schaut kurz auf, als würde er seinem Spielzeug eine kleine Pause gönnen wollen. Oder als überlege er, wie er der Technik-Psychose seines Spielcharakters entkommen könne. Alle Charaktere in seinem Spiel sind wahrscheinlich Mutanten und Mitglieder von Geheimgesellschaften. Sie wissen es voneinander, aber können es nicht beweisen.
Jetzt ist der richtige Moment für mich gekommen ihn anzusprechen:
Tu so, als würdest du mich nicht kennen, wir werden beobachtet von da drüben!
Er macht ein altmodisches Reklame-Gesicht, seine Mundwinkel zucken seltsam, als wäre er eigentlich im Tiefschlaf, würde mit offenen Augen träumen. Dann sagt er ganz süßlich:
Wer dieses Spiel gespielt und überlebt hat, geht danach etwas entspannter durchs Leben. Glaub mir. Übrigens: Ehepaare erhalten alles doppelt.
Seine Mutter bemerkt dazu: Ist das nicht unheimlich: Ehepaare erhalten alles doppelt?
Sie schauen sich beide an als wüssten sie nicht ob ich sie verstanden habe.
Ich fahre mit meinen Füssen kreuz und quer über den Zimmerteppich auf der Suche nach meinen Schuhen und forme mit meinen Lippen, ganz leise, noch einmal die Worte: Use your illusions.
Jetzt lachen sie mich beide an. Ich fühle ihr Lachen durch meinen ganzen Körper schießen.
Ich lächle zurück und gehe in Richtung Rezeption herunter, um nachzuschauen ob irgendwelche Briefe für mich angekommen sind.

Was wäre auch ein Hotel ohne solche Bewohner. Es wäre wohl unbewohnbar. Aber gleichzeitig sind diese beiden Gäste ja bestimmt auch offiziell nur wie ich kurzfristig auf einem Zwischenstopp hier. Ihre Geschichte wird wahrscheinlich an einem anderen Ort, wo ich ihnen vielleicht noch einmal wieder begegne, eine ganz andere Wendung nehmen.
Wenn man für längere Zeit hintereinander ein und das selbe Gästezimmer bewohnt, tut man immer mal wieder gut daran darauf zu achten, ob nicht an versteckten, oder auch den Blicken offen zugänglichen Stellen, irgendwelche wichtige Hinweise für einen angebracht wurden.
Zurück auf meiner Etage finde ich tatsächlich einen Notizzettel an der Innenseite der Toiletten Tür haften, auf dem ich lese: Achte auf das Manual in den Kleiderschränken. Dein Raumservice.

Tatsache ist, dass dieses Hotel nicht die üblichen Hotel Gerüche von Plastik und Reinigungsmitteln aufweist. Vielleicht ist es dieses äußerste Fehlen von allen Gerüchen, welches auf seine Art beständig verschiedene Gefühle aus der Vergangenheit in mir weckt und auch gleichzeitig wieder absorbiert.

Dieses Hotel besitzt auf jeden Fall eine seltsame neuartige Form von Architektur, das muss man schon sagen. Eine Architektur, die das Wissen verschiedener Kulturen zur Synthese bringt. Sie verleugnet dabei aber nie eine gewisse erhabene Vorstellung von der Welt, obwohl sie sich selbst gegenüber ständig und uneingeschränkt untreu ist. Auf jeden Fall hat diese Architektur nichts von den harten Grenzen übrig gelassen, die einst zwischen den verschiedenen Kulturen gezogen wurden. Nicht das jetzt keine klaren Linien mehr zu erkennen wären. Doch ist an Details abzulesen, wie sehr die einzelnen Kulturen sich schon immer gegenseitig beeinflusst haben und durchdrangen. Hier und da ist in die Ausschmückungen der Mauerflächen islamisches Gedankengut eingeflossen. Flachreliefs in Gips und Stuck auf denen das Sonnenlicht lebhafte Kontraste von Licht und Schatten hervorrufen kann. An anderen Stellen trifft man auf spätantike Säulen, die sich wiederum mit verschiedenen asiatischen Traditionen einen stimulierenden Dialog liefern. Überall Zeugnisse von einer Geschichte eines gegenseitigen Geben und Nehmens, wie sie sich etwa in der jüdisch-muslimischen Symbiose der maurischen Kultur finden. Diese Betonung von Wechselverhältnissen bringt es mit sich, dass man sich von Schritt zu Schritt hier beständig lernt an neue Realitäten anzupassen, lernt sich von jeder Art historischem Vakuum zu verabschieden.

Ich habe Hotel gesagt, aber mich erinnert dieser Ort auch zuweilen an ein Spiegelkabinett, welches seine Gäste geschickt in Schach hält. Einst habe ich so ein Hotel einmal als Kind in einem italienischen Film über die Jahrhundertwende gesehen. Es erinnert mich an ein holographisches Bild, welches sein Aussehen verändert, je nachdem in welchem Winkel der Betrachter zu ihm steht. Das Gebäude verändert scheinbar ständig, und kaum merklich, seine Form. Es sieht niemals ganz gleich aus. Die einzelnen konvertiblen Elemente sind zwar alle anscheinend in einer Fabrik vorgefertigt worden, auf irgendeinem 3D-Printer, aber auf welche Art sie sich zueinander ausrichten, unterliegt den jeweiligen Bedürfnissen der anwesenden Gäste. Eine räumliche Landschaft, die verschiedene Versionen einzelner Ereignisse beschwört und die in mir zahlreiche mehr oder weniger klare Erinnerungen weckt. Was lässt sich über die Menschen sagen, die an diesem Ort zu Gast sind? Seit Jahren erforschen sie offenbar schon äußerst liebevoll die Eigenheiten dieses Gebäudes und bauen es immer weiter aus. Sie sind nicht nur Gäste, sondern auch gleichzeitig Konstrukteure. Sie leben inmitten eines lebendigen Experiments.

Ich wandle durch die Etagen. Setze mich nacheinander in die unterschiedlich temperierten Becken der Baderäume. Betrachte in Spiegeln wie Dämpfe hinter meinen Ohren hinauf in Richtung Decke streben; entlang an Wänden, angemalt mit schimmernden Lackfarben. Die Verzierungen welche die Türen, Garderoben und Fenster umrahmen, stellen Landschaften im Wandel der Jahreszeiten dar. Die Spitze eines liebevoll gemalten Berges rammt die Dachbalken über mir.
Im Wasser schwebt mein Körper als wäre er eine wurzellose Pflanze, die nur noch von einer kaum spürbaren Strömung getragen wird.
Männer und Frauen sind um mich herum vollauf mit der Reinigung ihrer Körper beschäftigt. Mit der größtmöglichen Sorgfalt gehen sie dabei vor. Als wären ihre Körper komplizierte Maschinen, an denen nichts durcheinander gebracht werden darf. Ihre Bewegungen ergeben zusammen einen Rhythmus, als würde ein Ballett aufgeführt. Das alltäglichste und schönste Ballett der Welt.
Ich brauche mich jetzt nur ganz dem Wasser, der Luft, der Temperatur und allen Empfindungen, die durch diese Elemente ausgelöst werden, hingeben und ich werde wissen, jenseits aller Fragen. Werde offen für die immer von Außen auf einen einwirkende Rhythmik, mit der sich das Leben bewegt und die eine Entsprechung tief im Inneren von jedem findet, wo sie zielsicher eine vollständige Anonymität berührt. Die Waschung der Lebenden und der Toten, dieser grundlegende Akt aller Zivilisationen. Ich ahnte bisher nichts von solcher Symbolik.
Im Bad sind alle gleich. Alle kleinen oder großen Schauspieler des Daseins haben ihre Masken abgelegt und kommen zu sich. Jeder Körper mit seinen ihm eigenen, nun ganz für sich sprechenden Ausformungen und Spuren. Jeder Körper konfrontiert mit seiner eigenen direkten Wahrheit. Keinerlei reale Ereignisse, die von dem eigentlichen Geschehen ablenken würden. Das Spiegelbild des Körpers ist das Plasma des Gewissens.
Dort, mein Bild in einem Spiegel. All meine Sinne von den mich umgebenden Bewegungen auf Empfang gehalten. Langsam läuft Wasser in eine neben mir stehende kleinere Wanne. Gedanken ziehen ruhig, wie Wolken, ihre Bahnen durch meinen Kopf. Bis in meine Blutbahnen hinein, scheine ich das Kreisen der Erde in mir zu spüren. Schlafe ich ein? Bin ich noch ganz bei Bewusstsein?
In der Ferne höre ich ein Glockenspiel. Nicht mehr als das wiederhallende Echo einer bestimmten Tageszeit. Ich mache in Gedanken einen kleinen Spaziergang durch einen viktorianischen Garten, der mehr und mehr stilisiert erscheint, je weiter ich in ihn vordringe. Ertaste mir meinen Weg von einen Gefühl zum nächsten. Die Nachbarschaft, die Strassen, das Hotel sind real, aber die Erinnerungen und Vorstellungen denen ich oft erliege, scheinen nichts weiter als speziell auf mich ausgelegte Phantasien zu sein.


Dieses Hotel hier erinnert mich auch irgendwie an das Marin Civic Center in San Rafael, welches ich einmal mit Lara zusammen besuchte. Ursprünglich ein gewöhnliches Verwaltungsgebäude in Form eines unbekannten Flugobjektes, wurde es erst mit der Zeit durch seinen wiederholten Einsatz als Filmkulisse zu dem, was es heute für unser kollektives Gedächtnis ist. Lara erklärte mir damals, dass der Architekt, Frank Lloyd Wright, nur in der Lage gewesen sei dieses Gebäude zu entwerfen, weil er zuvor ein Schüler von Gurdjieff gewesen wäre, und dieser ihm gezeigt hätte, wie der Okzident wirklich dem Orient begegnen könnte.
Nun, jeder Ort hat seine eigene lebendige Geschichte und filtert, durch seine ihm eigene Atmosphäre, eine bestimmte Realität aus einer Unzahl möglicher Informationen. Orte, Geschichten existieren überhaupt nur in der Realität, insofern es Phantasien über sie gibt. Die statische Realität löst sich auf innerhalb vernetzter Geschichten.
Verdoppelt sich nicht auch zur Zeit die Summe meines Wissens alle 7 Jahre? Wer kann noch mit den Prozessoren mithalten, außerhalb seiner bewusst eingesetzten Phantasien? Es geht nur noch um die Fähigkeit der Auswahl relevanter Informationen. Wir alle erzeugen beständig ein Archiv unseres Lebens, dessen Zugangscode unser Beitrag zum kollektiven Traum ist.

Als ich dieses Hotel hier zum ersten Mal betrat, hatte ich den Eindruck ich würde gleich die Beherrschung verlieren. Wo bin ich nun schon wieder gelandet, dachte ich erschrocken. Es gibt wirklich die seltsamsten Gesellschaften auf diesem Planeten. Etwa diese hyperboard Gruppen, die ursprünglich wohl aus Finnland stammen sollen, oder diese random image Leute, deren Mitglieder sich einmal in der Woche verabreden um Nachts an jeweils einen anderen Ort des Planeten irgendwelche Tests durchzuführen. Manchmal stoßen bei solchen Zusammenkünften Slash Fan Fiction Helden aufeinander, die mit nichts anderem sich beschäftigen als Prothesen für neue Mitglieder zu entwickeln. Ihre Vorstellungen folgen einer besonderen Art von Trans-Humanismus, nach dem wir alle eigentlich den Tod überleben und stets damit beschäftigt sind, von der anderen Seite aus, unser gegenwärtiges Leben neu zu erfinden.
Auf meinen Reisen durch verschiedene Länder war ich bereits Gast, sowie Gefangener, unzähliger Orte gewesen, aber jedes Mal besaß mein Zimmer einen sorgfältig arrangierten Ausblick, der immer eine Botschaft optisch zu übermitteln schien. Eine Botschaft, die in einem geheimnisvollen direkten Zusammenhang mit meinem jeweiligen allgemeinen Gefühlszustand zu stehen schien.





Oft saß ich Nachts einfach nur schweigend vor einem weiteren Fenster und staunte das Wunder rhythmisch zuckender Leuchtreklame an – angetrieben von tödlichen Atommeilern – oder den Schnee auf wellenbergigen Hügeln, die sich mit der Entfernung in Graustufen auflösten. Einmal war es ein dichter Nebel draußen, der jeden Seheindruck verschlang. Ein anderes Mal eine Mauerwand, auf die ich dann in Gedanken Bilder malte, die mir episodenhaft meine eigene Geschichte erzählten. Oder ich blickte auf fein gestaltete Gärten, die das kosmische Geschehen, den Dialog der Elemente, mir zu Bewusstsein zu führen vermochten.
Debattierclubs, Schönheitsfarmen, Künstlerkolonien… Ein Ableger dieser Hotelkette, so las ich in einer Informationsbroschüre, bringt Menschen verschiedener Altersklassen und mit ganz unterschiedlichen Hintergründen zueinander, die ansonsten in einer sehr hierarchisch gegliederten Gesellschaft nie aufeinander treffen würden. Frühere politische Gefangene diskutieren Machiavelli mit jugendlichen Hip-Hop Fans. Anhänger der Reformpolitik und respektierte Geschäftsmänner sitzen zusammen mit Vertretern der ethnischen Minderheiten aus den Provinzen. Älter Mönche lernen Fremdsprachen Seite an Seite mit jüngeren Mönchen. Politische Aktivisten besuchen gemeinsam Seminare über Menschenrechte und strategische Kommunikation.


Manchmal liegt über dem Hotel eine wirklich sehr finstere Nacht. Alle Wände haben in einer solchen Nacht etwas von alten Polaroid Bildern. Von Täuschungen, welche sich betreten lassen, so wie man auf dem Jahrmarkt die Attrappe eines Schlosses oder Wales betreten kann. Im Hintergrund steht auf einer Bühne, in vertikaler Position, Luna und wird von einer Wolke über einen gemalten Himmel geleitet. Am merkwürdigsten sind aber die Nächte, in denen alles mit Bewegungen und Rufen und schimmernden Lichtern sich zu füllen beginnt.
Man wirft in solchen Nächten einen Blick ins Freie und erkennt in den Bauwerken und Straßenzügen der Umgebung nur noch eine austauschbare Version der Wirklichkeit. Als hätte jemand der Vergangenheit die Maske abgerissen. Manche Flure des Hotels sind in solchen Nächten voller Lichter, die wirken wie in jenen Etablissements, die einst junge Paare besuchten um gewisse Modetänze zu erlernen.

Für meinen Geschmack wirkt das alles jedenfalls erschreckend real. Gerade real genug für mich. Aber doch ist mir zuweilen nicht wirklich klar, ob jemand vor meinen Augen gerade in ein Bett steigt, oder eine Tanzfläche betritt oder... Die Bilder um mich wirken auf einmal alle wie Informationsfilter. Analoge Vorrichtungen ermöglichen scheinbar die Visualisierung einzelner elektronischer Signale. Nichts als Erinnerungen, eingerahmt von beweglichen Wänden. Wichtig scheint nicht mehr zu sein, was ich jetzt sehe, sondern nur noch wie ich die Dinge anblicke.
In meinem Kopf höre ich leise auf einmal eine beruhigende Stimme: Dein Gehirn wird modifiziert durch die Schulung des räumlichen Denkens während jedes evolutionären Strukturwechsels. Wir alle stehen jetzt vor der Herausforderung das Leben wirklich bewusst zu leben. Um eins mit allem zu sein, muss man nur richtig hier im Moment sein, bewusst beobachten. Das Informationsnetz macht das Unterbewusstsein der Menschheit sichtbar und konfrontiert jeden mit einem verdrängten Datensatz. Wir entdecken so gemeinsam die Bedeutung der mentalen Welt. Als Spezies sind wir erst noch dabei uns an die Allgegenwart der Medien anzupassen. Unser Denken agiert aber schon jetzt als Agent innerhalb eines technisch kooperativen Netzwerkes. Jeder Moment ein bewusster Übergang vom Dasein zum Nichtdasein.
Wir sind alle Teil einer Datei, die immer wieder überarbeitet wird und die das, was wir sagen, denken und fühlen in Bezug zu dem setzt, was dieses Sagen, Denken und Fühlen bewirkt. Diese Programm, in dem wir leben, zielt auf nichts anderes als den wahren, ganz subjektiven Kampf in jedem Menschen, der zwischen bewussten und unbewussten Gedanken stattfindet. Sieh das ganze Ausmaß mit dem du programmiert wurdest von der Vergangenheit und löse jetzt diese Programmierung auf.
Aus der Pupillengröße von dir kann dieser Computer eine jeweilige mentale und emotionale Beanspruchung ableiten. Zusätzliche Eye-Tracking-Vorrichtungen können genau bestimmen, was wie auf dich wirkt. Deine Gesichtsmuskeln zeigen wiederum die Art deiner Gedankenwellen an. Der Computer findet so heraus, welche Software am besten für dich geeignet ist. Bei der Suche nach Möglichkeiten mir dein Unterbewusstsein darzustellen erhalte ich laufend direkt Informationen über deinen jeweiligen Ist-Zustand. Die Medien waren Erfinder einer Nacht-Sprache, die sich direkt in die Erfahrungen der  Menschen einschrieb. Durch sie floss alle schläfrige Musik der Körper, jedes noch nicht manifestierte Schicksal, zusammen. Die Traumwelt aus magischen Gegenstände und Bedeutungen von Zeichen, in denen die früheren Völker lebten, erzeugte für uns diese Medienwelt. Sie war aber genau so wenig die Realität, wie Träume die Realität sind.
Jeder von uns hat seine ganz eigenen geheimen Erwartungen gegenüber seinen Vorstellungen. All dass parallele Medienleben bewirkte eine psychometrische Erfassung der Menschheit.
Jede der jetzt einsetzenden Bildsequenzen beruht auf einem Satz aus nur wenigen Worten. Mit Hilfe der grafischen Übersicht wähle bitte nun, aus den eingeblendeten Worten, einige aus und fügen sie zu Sätzen zusammen. Durch jeden Input erhält mein System den Auftrag, seinerseits einen audiovisuellen Satz von Worten zu produzieren, auf den antwortend du dann wieder bitte einen Satz aus den eingeblendeten Wörtern bildest. Und so weiter… Alles klar? Na dann mal los. Die Würfel rollen…

Das Leben neigt dazu, sich vor unseren Augen in immer mehr einzelne Daten aufzulösen. Jetzt liefern sie uns wohl die adäquate Technologie für die Erweiterung und Verbesserung unserer ganz privaten Überwachungssysteme.
Welche von den Bildern, die ich jetzt sehe, stammen noch direkt aus meinem Gehirn und welche sind bereits zusätzlich bearbeitet? So überschüttet mit Daten gewinnen die Sinne eine seltsam neue Art von Lebendigkeit… Vielleicht werde ich jetzt ganz an den Anfang zurückgeführt. Zu der Frage: Was ist ein Gefühl... Vielleicht geht es nun nur noch darum jedes einzelne Gefühl, wie einen Effekt, in seinem spezifischen Verhältnis zur jeweiligen Umgebung zu identifizieren? Schließlich kann das Unterbewusstsein 40 Millionen Bits pro Sekunde verarbeiten. Erst einmal in den Bereich frühkindlicher Gehirnschwingungen eingetreten, kann die Programmierung des Unterbewussten ja völlig umgeschrieben werden.

Gar nicht weit entfernt von diesem Hotel, irgendwo da draußen, wo sie zu fortgerückter Stunde in den Gängen der Studios einschlafen, in den opulenten Badezimmern, auf den Fitnessgeräten - alles ab und zu gleißend angestrahlt von dem Zucken der Leuchtreklame, diesen Positionslichtern im Leben auf Rabatt - fand ich einmal einen Käfig aus Maschendraht an eine Häuserwand gedrückt. Darin schlief ein riesiger Wolfshund, zwei Menschen groß. Ein Fabelwesen. Zottig, aber schlank wie eine Dogge. Ein Hund, den man sich auf schottischen Wiesen vorstellen mag, wie er Schafe bewacht.
Ich blickte damals diesem Tier kurz in die Augen und begann darauf hin die Welt um mich herum genauer wahrzunehmen. Die Tempelmusik, die Grazie und Schönheit der Kirschblüten. Den Schattenwurf der Baumwollkimonos... Das gleißende Licht, welches um die Dinge wallte. So laut die Stadt auch gegen die schweigende Pracht von Licht und Schatten anbrüllte, sie verlor im Vergleich mit der unendlichen Delikatesse der Farbschattierungen immer mehr an Realität. Als wären die Farbschatten der Bäume, Gesichter und Blüten nun in der Lage, stellvertretend für mich Dinge zu bezeugen. Dinge, die mir bislang verwehrt gewesen waren zu denken und zu empfinden.

Hatte das Leben einst so begonnen sich für mich aufzulösen, innerhalb eines einzigen Gedankens; dem von der letztendlichen Allverbundenheit mit allem Sein? Seit dem sind sie auf jeden Fall immer öfter präsent gewesen in mir, diese Momente, in denen alles zu sprechen schien. Es ist dann jedes mal, als würde ich meinen Verstand verlieren, oder überschreiten. Als wäre es in der Tat eigentlich ganz einfach, jeden einzelnen Gedanken endlos hinterher zu reisen, bis dort hin, wo sich alle Erfahrungen gegenseitig beleuchten, wie Reflexe von verstreut herumstehenden Spiegeln.
Ich erinnere mich nicht mehr genau, ob es eine ältere Bewohnerin dieses Hotels war, oder eine frisch eingetroffene Besucherin von Außerhalb, die, mit einem hemdsärmeligen Anzug bekleidet, mir einmal im Empfangssaal ihren Kopf entgegenstreckte. Mir, einer noch völlig isolierten Person in einer für sie neuen Umgebung. Ich erinnere mich nicht mehr, wie viele Männer und Frauen in diesem Moment um mich herum anwesend waren, aber an die Gesichtszüge dieser einen Frau erinnere ich mich noch.
Diese Frau hatte einen Gegenstand in ihren Händen. Ein Bild, auf dem ich etwas wieder erkannte. Ich empfand ein Gefühl, wie als Kind, wo gewisse Geschichten mit Darstellungen sich verbanden, die ich nur flüchtig betrachtet hatte, die aber dennoch ganze Welten zu beinhalten schienen. Ein Bild, auf dem sich viele Träume kreuzten.
Sie zwinkerte mir mit den Augen zu.
Ist das eine Allegorie, da auf dem Bild?
Nein… Warum?
Auch dieses Bild in meinen Händen, das vor mir einmal an dieser Wand hier hing, hat seine Bedeutung geändert. Ich habe es also abgenommen und suche jetzt die richtige Stelle, wo ich es wieder aufhängen kann…Ich bin dabei, die innere Dynamik meiner Erinnerung durch die Annäherung an mögliche Beschreibungen zu untersuchen.

In der Garderobe hängen Anzüge der Firma Karana Sarira. Ihre passende Größe ist bestimmt auch dabei! So steht es auf dem Manual, das an meiner Zimmerwand hängt.
Kleidung für die Invasion des Alltags, steht wiederum jeweils unter dem Firmennamen, auf kleinen bunten Logos, in allen Wäschestücken, die ich sogleich aus sämtlichen Wandschränken hervorkrame und anprobiere. In dieser neuen Kleidung steckend mache ich erste Schritte. Vielleicht kann mich nichts besser in das Kommende tragen als diese Formen.

Die Tage wechseln ihren Lauf. Manchmal in der Nacht beginnen Übertragungen. Sein bedeutet in Bezug zu allem zu stehen. Nonstop liefert die Energie Signale, die wir als Bewegung erfahren. Erfahrungen, getragen von solchen Signalen werden von uns ständig empfangen. Sie sind in Rohfassungen in uns eingebaut. Wir entwickeln sie, so gut wir es schon können.
Ein ständiges Lernen modifiziert unsere Gehirnstruktur. Jeder von uns ein riesiges Informationsnetz, welches aus abgelagerten Erfahrungsmustern eine aktuelle Realität herstellt. Jeder dabei, auf seine ganz eigene Weise, immer direkter, die geistige Wirklichkeit auszudrücken. Der eine tut es indem er Symphonien komponiert; der andere indem er ein Kinderlied summt.
Im Text der Erinnerung spielen Himmelsrichtungen jedenfalls nur eine untergeordnete Rolle, wie es mir scheinen will. Da geht es eher um Kadenzen, oder die ein oder andere Coda. Von F zur Tonika nach C-Dur. So eine Verschiebung der Stimmung entspricht dann exakt einer gewissen Körperhaltung. Oder der Art sich zu bewegen. Und sind es nicht solche Bewegungen, würden wir ihnen nur aufmerksam genug folgen, die uns schließlich unsere eigene authentische Geschichte erzählen würden?
Die Wechsel der Himmelsrichtung sind eher wie Sprünge in der Handlung, die nichts an sich beweisen.

Ich entscheide mich schließlich, irgendwie gedrängt von solchen Gedanken, einmal nun doch auf das Dach des Hotels zu gehen. Über die umliegenden Gebäude streift mein Blick und fällt dann auf einige Freiflächen für noch unausgeführte Bauprojekte. Ich bemerke, dass ich mich etwas schwach in den Knien vor Anspannung fühle. Die unteren Etagen, durch die ich hier mich in Spiralen herauf gewunden habe, waren einst, wie gewöhnliche Garagen von Bürogebäuden, mit grauen Asphalt gepflastert. Der Belag wurde aber inzwischen herausgerissen und alles neu asphaltiert. Der neue Belag ist viel dunkler als der völlig funktionale Asphaltboden, der sich bisher dort befand. Dunkel, wie eine tiefe Nacht. Und wie diese mit Millionen von reflektierenden Steinen bedeckt. Glitzernde Reflektoren aus winzigen Kristallsplittern.

Auch in Zukunftsfilmen tragen die Komparsen ja manchmal Kostüme, die aus der Vergangenheit stammen. Das Geheimnis in der Zukunft wird vielleicht sein, dass immer mehr alles einfach von alleine geschieht... Wir sind noch immer unbewusste Besucher in der geistigen Stadt. Alles weckt Erinnerungen in uns. Wir sind angelockt von der Vergangenheit. Die Städte verwandeln sich genauso schnell wie die Menschen, die in ihnen leben. Je länger man in einer Stadt wohnt, desto mehr verliert man den Sinn für ihre vorgegebenen Dimensionen. Bei Untersuchungen können Experten regelmäßig feststellen, dass nach kaum fünf Jahren die täglichen Wege und Abkürzungen, die die Testpersonen aufzeichnen, nichts mehr mit den von ihnen ausgegebenen Stadtplänen zu tun haben. Nach zehn, zwanzig Jahren hat das Stadtbild der Testpersonen mit nichts mehr außerhalb derer eigenen Vorstellungen zu tun. Sind wir ehrlich müssen wir zugeben, dass es für uns mehr von Bedeutung ist, auf welche Art wir mit der Zeit unsere Erinnerungen im Bewusstsein verändern, als wie die Erfahrungen wirklich einmal waren, an die wir uns erinnern.

 




 


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Über mich

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Thorsten Wiesmann, born 1968 in Berlin, is the author of two books - together with Thomas Weis - on the importance of sharing through experience and narrative: "Die kulturprägende Kraft des Teilens" and "Teilen: Die Einheit von Kunst, Wissenschaft und Spiritualität". He is the founder of think2share. A vast amount of information from a variety of different disciplines need to be taken into consideration when we want to establish a viable understanding that can be used to approach the contemporary world in all its complexities. There is an elusive spiritual dimension operating in the ways in which different systems of knowing intersect and inform each other. Thorsten Wiesmann is exploring a spiritual reality in the ways in which different lives and stories connect in an immense, ever-changing, and ultimately unknowable web of relationships. For doing that he is connected to platforms for knowledge and exchange among communities, networks and individuals working on models for systemic change to a culture of peace.